30 Jahre nach den Verbrechen von Srebrenica Der Begriff «Opfer» zwischen Glaube und Verbrechen
Dieser Text ist der Versuch, den Begriff «Opfer» im Kontext des Genozids von Srebrenica aus theologischer und ethischer Perspektive zu hinterfragen. Die Reflexionen sind das Ergebnis einer interdisziplinären Auseinandersetzung – zwischen Religion, Geschichte, Menschenrechten und persönlichem Erinnern.
Ein ebenso wichtiger Aspekt ist die Perspektive der Betroffenen und Hinterbliebenen. Ist es angemessen, die Ermordeten – Väter, Brüder, Schwestern – einfach als «Opfer» zu bezeichnen? Als «Opfer» von irgendetwas? Ich halte das für problematisch.
Definitionen des Begriffs Opfer
Der Begriff «Opfer» stammt ursprünglich aus dem Lateinischen offerre, was so viel bedeutet wie «darbringen» oder «opfern». Im kirchlichen Latein entwickelte sich daraus der Ausdruck offerre sacrificium – ein Opfer darbringen. Damit war der Begriff ursprünglich zutiefst religiös geprägt: Menschen brachten einer höheren Macht oder Gottheit im Rahmen von Ritualen Opfer dar.
Mit der Zeit weitete sich die Bedeutung aus und fand auch im Alltag Verwendung: Menschen können persönliche Opfer bringen – für eine grössere Sache, für andere Menschen oder Werte. In der islamischen Tradition wird zwischen verschiedenen Formen des Opfers unterschieden. Das arabische Wort Qurbān (von qarīb = Nähe) steht für das rituelle Opfern als Mittel, sich Gott zu nähern. So heisst es im Qur’an (Sure 108, Vers 2): «So bete zu deinem Herrn und opfere!» (arabisch: Fa-ṣalli li-rabbika wanḥar).
Ist es wirklich angemessen, den Begriff «Opfer» für bestialische Verbrechen, wie den Genozid von Srebrenica zu verwenden?
Der Begriff «Opfer» hat sich somit vom religiösen Ritual zum Alltagsbegriff gewandelt. Der Begriff Opfer hat seinen Ursprung in der Religion, wobei sich mit der Zeit die Bedeutung des Wortes stark erweitert hat. Im Alltag kann jemand ein persönliches Opfer bringen, für eine grössere Sache. Oder jemand wird unfreiwillig zum «Opfer» durch Gewalt, Unrecht oder Krieg. Im Recht wird eine Person als Opfer bezeichnet, die durch eine Straftat geschädigt wurde. Auch wenn jemand als hilflos bezeichnet wird, wird dieser Person oft eine Opferrolle zugeschrieben. Heute erleben wir vermehrt, dass Personen wegen ihrer Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit Diskriminierung erleben und als «Opfer von Rassismus» oder «Opfer sozialer Ungerechtigkeit» bezeichnet werden. Doch genau hier liegt die Problematik: Ist es wirklich angemessen, den Begriff «Opfer» für bestialische Verbrechen, wie den Genozid von Srebrenica zu verwenden?
Islamisch-theologische Überlegungen
In der islamischen Praxis trägt der Begriff «Opfer» stets eine positive Konnotation. Jeder Muslim ist aufgerufen, Opfer zu bringen – sei es im Sinne von Hingabe, Geduld oder Dienst an Gott. Zahlreiche Geschichten im Qur’an erzählen von Gesandten Gottes (rasūl), die grosse Opfer brachten, allen voran Ibrahim (Abraham), der als Symbol für Opferbereitschaft gilt.
Sein Wunsch nach einem rechtschaffenen Nachkommen wird im Qur’an (Sure 37, Verse 107–108) so beschrieben:
«Mein Herr, gib mir (Nachkommen) von den Rechtschaffenen!» – und daraufhin wurde ihm die frohe Botschaft eines geduldigen Sohnes zuteil.
Ibrahims Opferbereitschaft ist eng mit seinem Vertrauen in Gott verbunden und steht in einem klaren Verhältnis zu seinem Wunsch und Gottes Willen. Ob er vor der Geburt seines Sohnes explizit sagte, er werde ihn opfern, ist nicht belegt. Entscheidend ist vielmehr seine bedingungslose Hingabe, als die Prüfung kam. Diese Dynamik – die «Dreiecksbeziehung» zwischen Ibrahim, Gott und dem Wunsch nach einem Sohn – wird durch das Gebot des Opferns zu einer «Vierecksbeziehung», da der Sohn gefragt wird, was er vom Vorhaben seines Vaters hält. Im Qur’an heisst es:
«Mein Sohn, ich sehe im Traum, dass ich dich opfere; sieh, was du dazu meinst!»
Der Sohn antwortet:
«Mein Vater, tu, was dir befohlen wird; so du mich findest, wirst du mich, so Gott will, geduldig vorfinden.» (Sure 37, Verse 109–110)
Diese Geschichte zeigt, dass Opferbereitschaft im islamischen Kontext nicht als blosse Selbstaufgabe, sondern als aktives, bewusstes und dialogisches Handeln verstanden wird. Die jährliche Erinnerung an das Opferfest (Kurban Bayram) hält diese Bedeutung lebendig. So heisst es im Qur’an:
«Weder ihr Fleisch noch ihr Blut werden Allah erreichen, aber Ihn erreicht die Gottesfurcht von euch.» (Sura 22, Vers 37)
Der Begriff «Opfer» in der christlich-feministischen Theologie
Im christlichen Kontext wird das Opfer häufig mit dem Kreuzestod Jesu Christi in Verbindung gebracht, der als stellvertretendes Leiden für die Sünden der Welt verstanden wird. Diese Theologie der stellvertretenden Opferbereitschaft wurde im Laufe der Geschichte sowohl als Rechtfertigung von Leid als auch als Aufruf zur Nächstenliebe interpretiert. Feministische Theologinnen kritisieren diese Sichtweise, da sie oft das Leiden ins Zentrum stellt – insbesondere jenes von Frauen – und sie so in passive, leidende Rollen drängt, wodurch patriarchale Machtstrukturen aufrechterhalten werden.
Feministische Theologinnen betonen daher die Notwendigkeit, das Konzept des Opfers neu zu denken: Weg von resignierter Passivität – hin zu aktiver Selbstbestimmung, Widerstand und Heilung.
Aus der Perspektive der christlich-feministischen Theologie wird der Begriff «Opfer» grundsätzlich kritisch hinterfragt. «Opfersein» ist häufig mit Passivität, Schmerzgeduld und Selbstverleugnung verbunden – Eigenschaften, die patriarchale Ordnungen stabilisieren und Frauen sowie marginalisierte Gruppen in untergeordnete Rollen drängen. Feministische Theologinnen betonen daher die Notwendigkeit, das Konzept des Opfers neu zu denken: Weg von resignierter Passivität – hin zu aktiver Selbstbestimmung, Widerstand und Heilung. Opfer werden nicht nur als Leidende verstanden, sondern als aktive Subjekte, die ihr Leben selbst gestalten und sich für Gerechtigkeit einsetzen.
Diese Perspektive ist von besonderer Bedeutung, denn gerade die Mütter von Srebrenica (Majke Srebrenice) tragen den grössten Schmerz. Sie sind nicht die Mütter von «Opfern» – sie sind die Mütter ihrer Söhne, die Ehefrauen ihrer Ehemänner und Schwestern ihrer Brüder!
«Ich hasse eure Feste» – Opferkritik in der jüdischen Prophetentradition
Die Kritik am Opfer ist keine moderne Erfindung. Ihre Wurzeln ragen in der jüdischen Geschichte tief, insbesondere in der Prophetentradition der hebräischen Bibel. Propheten wie Amos, Jesaja oder Jeremia erhoben ihre Stimmen gegen einen Kult, der sich von Gerechtigkeit und Menschlichkeit entkoppelt hatte.
Für sie war das rituelle Opfer bedeutungslos, ja sogar verwerflich, wenn es nicht von einem gerechten Leben begleitet wurde. Es war nicht der Akt des Opfers an sich, der kritisiert wurde, sondern der Missbrauch des Rituals. Zusammengefasst würde die Kritik der Propheten bedeuten, dass der Tempelkult zum Ort der Heuchelei wurde und das Opfer zur Lüge.
So spricht Amos etwa in harscher, fast zorniger Sprache:
«Ich hasse, ich verachte eure Feste […] Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Es ströme aber das Recht wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.» (Amos 5,21–24)
Hier wird deutlich, dass nicht der Kult den Menschen Gott näher bringt, sondern das gelebte Recht. Opfer, so die Propheten, dürfen niemals ein Ersatz für ethisches Handeln sein – und wer Unrecht tut, kann sich nicht durch religiöse Riten von seiner Verantwortung freikaufen.
Und auch hier findet man einen weiteren interreligiösen Ansatz. Nicht nur in der jüdischen Prophetentradition, sondern auch im Islam wird das Opfer nur dann als bedeutungsvoll angesehen, wenn es von einer inneren Haltung der Aufrichtigkeit begleitet ist. Äussere Riten allein genügen nicht – entscheidend ist die Gottesfurcht (taqwa), also die bewusste Ausrichtung des Herzens auf das Gute, Gerechte und Wahre, wie oben in der Sure 22, Vers 37 erwähnt.
Vertiefende Reflexionen zum Begriff «Opfer» im Kontext von Genozid und Theologie
Die Verwendung des Begriffs «Opfer» im Zusammenhang mit Genozid führt zu einer komplexen theologischen und ethischen Herausforderung. «Opfer» ist ursprünglich ein Begriff, der sowohl in der Religion als auch im Alltag eine positive Bedeutung haben kann – etwa als freiwillige Hingabe, als Symbol für Treue, Liebe oder auch als Ausdruck von Solidarität und Gemeinschaft.
Doch wenn dieser Begriff auf Menschen angewandt wird, die durch systematische, gewaltsame Vernichtung ums Leben gekommen sind, gerät seine ursprüngliche Bedeutung in einen Spannungszustand. Einerseits erinnert er an die Würde und Einzigartigkeit des einzelnen Menschen, der trotz allem Mensch geblieben ist und dessen Leben als wertvoll erachtet wird. Andererseits droht die Bezeichnung «Opfer» zur sprachlichen Verdünnung des Grauens zu werden, indem sie die passive Rolle der Ermordeten betont und damit möglicherweise die aktive Schuld der Täter unabsichtlich relativiert oder verschleiert.
Die unvorstellbare Brutalität, mit der Menschen systematisch entmenschlicht und ermordet wurden, darf nicht in eine sprachliche Kategorie eingepasst werden, die mit freiwilliger Hingabe oder heiliger Selbstaufgabe assoziiert wird.
Im islamischen Kontext ist das Opferverständnis eng mit der Geschichte von Ibrahim und seinem Sohn verbunden. Die Bereitschaft zur Hingabe an Gottes Willen, aber auch die dialogische Einbeziehung des Sohnes, zeigen eine aktive, bewusste Beziehung zum Opfer, die von Vertrauen und Geduld geprägt ist. Diese Geschichte fordert dazu auf, Opfer nicht als blosse Selbstaufgabe zu verstehen, sondern als ein bewusstes, lebendiges Handeln in Beziehung zu Gott und Mitmenschen.
Die Übertragung dieses Begriffes auf die Opfer eines Genozids wie in Srebrenica verlangt eine behutsame sprachliche und theologische Reflexion. Die unvorstellbare Brutalität, mit der Menschen systematisch entmenschlicht und ermordet wurden, darf nicht in eine sprachliche Kategorie eingepasst werden, die mit freiwilliger Hingabe oder heiliger Selbstaufgabe assoziiert wird. Vielmehr muss die Sprache die unbedingte Anerkennung der Schuld der Täter und das Entsetzen über die Taten ausdrücken.
Zugleich ist es wichtig, den Angehörigen und Überlebenden Raum zu geben, ihre eigene Sprache zu finden, um ihr Leid zu benennen und zu verarbeiten. Für manche mag der Begriff «Opfer» Trost und Anerkennung bedeuten, für andere kann er jedoch schmerzen oder sogar das Gefühl von Entmenschlichung verstärken.
Eine theologische Aufgabe besteht darin, neue sprachliche und symbolische Formen zu entwickeln, die dem Schrecken gerecht werden und gleichzeitig Raum für Heilung, Gerechtigkeit und Versöhnung schaffen. Dies kann nur gelingen, wenn die theologischen Reflexionen eng mit den Erfahrungen und Bedürfnissen der Betroffenen verbunden sind.
Problematisierung des Begriffs im Kontext des Genozids von Srebrenica
Aus dem bisher Geschriebenen wird klar, dass der Begriff «Opfer» seine religiöse Herkunft und positive Grundbedeutung in sich trägt. Doch seine Übertragung auf Menschen, die durch unmenschliche Gewalt bestialisch ermordet wurden, ist mehr als problematisch.
Wenn Menschen, die auf grausamste Weise getötet, misshandelt, zerstückelt und dann in Massengräbern verscharrt wurden, als «Opfer» bezeichnet werden, dann mindert dies die Grausamkeit der Tat. Es wirkt fast wie eine Verharmlosung, die der schrecklichen Realität nicht gerecht wird. Vielmehr scheint die Verwendung dieses Begriffs in diesem Zusammenhang fast eine Rechtfertigung für die Täter zu sein. Denn sie sehen in ihrem Handeln kein Verbrechen, sondern ein «Opfer» für eine höhere Sache – eine Ideologie, die durch die positive Konnotation des Opferbegriffs unbewusst «beflügelt» wird.
Ich persönlich empfinde es als unpassend, den Vater meines Freundes, der in diesem Genozid ums Leben kam, einfach als «Opfer» zu bezeichnen.
Diese Perspektive schafft eine unüberwindbare Barriere für Versöhnung. Solange der Begriff «Opfer» im Zusammenhang mit dem Genozid von Srebrenica verwendet wird, erscheint eine echte Aussöhnung illusorisch. Es stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr auch Täter als Opfer ihrer Ideologie, ihres Hasses oder ihrer Umstände zu betrachten sind – doch dies darf niemals die Schuld an ihren Taten relativieren.
Die Menschen, die in Srebrenica auf das Grausamste ermordet wurden, sind nicht nur «Opfer». Sie sind Ermordete, Getötete, deren menschliche Würde mit Füssen getreten wurde. Ich persönlich empfinde es als unpassend, den Vater meines Freundes, der in diesem Genozid ums Leben kam, einfach als «Opfer» zu bezeichnen.
Zwischen Sprache, Erinnerung und Würde
Sprache ist niemals neutral. Sie prägt unsere Wahrnehmung von Realität, unsere Art zu erinnern – und auch, wie wir trauern. Der Begriff «Opfer», so tief er auch in religiösen Traditionen verwurzelt ist, wird im Kontext von Genozid zu einem fragwürdigen Instrument. Was einst Ausdruck von Hingabe, Nähe zu Gott oder im christlichen Kontext stellvertretender Liebe war, droht angesichts systematischer Vernichtung zur sprachlichen Entwertung des Grauens zu werden.
Wenn wir über Srebrenica sprechen, müssen wir die Gewalt benennen – nicht als Schicksal, nicht als «Opfer», sondern als gezielte, menschenverachtende Tat. Die Ermordeten verdienen es, als das gesehen zu werden, was sie waren: Menschen mit Namen, Beziehungen, Hoffnungen, deren Leben brutal ausgelöscht wurde.
Die theologische Herausforderung liegt darin, eine neue Sprache der Erinnerung zu finden – jenseits von religiös aufgeladenen Kategorien, die das Leid verherrlichen könnten. Eine Sprache, die nicht nur die Schuld der Täter kennt, sondern auch die Würde der Getöteten bewahrt. Eine Sprache, die weder verherrlicht noch verdrängt, sondern erinnert, benennt und verwandelt.
Deshalb braucht es eine neue Sprache des Erinnerns – eine, die sich an den realen Erfahrungen der Überlebenden und Hinterbliebenen orientiert.
Gerade die Theologie – sei sie christlich, jüdisch oder islamisch – darf nicht in einer rein rituellen Sprache verharren, wenn sie der Realität extremer Gewalt gerecht werden will. Es geht nicht um kultische Kategorien oder darum, dass Religion selbst zum Opfer politischer Ideologien wird, weil sie schweigt und den Mut vermissen lässt, die Dinge beim Namen zu nennen – besonders dann, wenn es um die Würde des Menschen geht. Um Menschen, denen nicht nur das Leben, sondern oft auch ihr Name, ihr Gesicht und ihre Geschichte genommen wurden.
Deshalb braucht es eine neue Sprache des Erinnerns – eine, die sich an den realen Erfahrungen der Überlebenden und Hinterbliebenen orientiert. Eine Sprache, die benennt statt beschönigt. Die klagt, wo Klage nötig ist. Und die heilt, wo Worte zu Brücken werden können. Wenn wir nun festhalten, dass dieser Begriff aus der Religion stammt und falsch verwendet wird, dann ist es umso mehr eine interreligiöse Aufgabe und Pflicht eine Alternative zu bieten, nämlich gemeinsam die Sprache des Erinnerns zu finden.
Vom Begriff ‚Opfer‘ zur Verantwortung des Erinnerns – warum die Überlebenden im Zentrum stehen müssen
Vielleicht beginnt wahre Versöhnung nicht dort, wo wir von «Opfern» sprechen, sondern dort, wo wir die Menschen beim Namen nennen. Wo wir ihre Geschichten hören.
Wenn wir vom Begriff «Opfer» sprechen, vereinfachen wir oft die Geschichte – und laufen Gefahr, das Geschehene zu banalisieren. Von «Opfern» ist meist punktuell die Rede, etwa am offiziellen Gedenktag des Genozids. Doch wenn wir uns durch die Geschichten der Ermordeten erinnern, wird ihre Existenz greifbar – und sie werden mehr als nur ein Wort.
Drei Jahrzehnte sind vergangen seit dem Genozid in Srebrenica. Seitdem erinnern wir uns jedes Jahr am 11. Juli an die «Opfer». Jedes Jahr werden wir Zeuginnen und Zeugen, wie Angehörige die sterblichen Überreste ihrer Liebsten zur letzten Ruhe tragen und Abschied nehmen. In diesem Moment gedenken wir nicht nur der Ermordeten – sondern auch der Überlebenden.
Vielleicht liegt im Erinnern der wahre Sinn nicht im blossen Wiederholen des Begriffs «Opfer», sondern im Widerstand gegen das Vergessen.
Denn das Ausmass des Grauens von Srebrenica reicht weit über die Gedenkstätte in Potočari hinaus. Menschen, die aus Srebrenica und Umgebung vertrieben wurden, leben heute in St. Louis, in Neuchâtel, Sydney, Malmö, Berlin – und in hunderten anderen Städten weltweit. Sie sind nicht nur «Hinterbliebene», nicht nur Angehörige von «Opfern». Sie sind Teil dieses Traumas. Teil einer grausamen Geschichte.
Vielleicht liegt im Erinnern der wahre Sinn nicht im blossen Wiederholen des Begriffs «Opfer», sondern im Widerstand gegen das Vergessen. Im Erzählen der Geschichten. Im Sprechen der Namen. Nicht nur der Namen der Getöteten – sondern auch der Namen der Vertriebenen. Es bleibt die Hoffnung, dass selbst nach dem grössten Bruch Gerechtigkeit, Versöhnung und Heilung möglich sind – nicht durch ein einziges Wort, sondern durch das, was Worte tragen können.
Dieser Artikel wurde zuerst im interreligiösen Online-Magzin religion.ch veröffentlicht. Wir teilen ihn im Einverständnis mit der Redaktion.